197 Jahre Anachronistischer Zug – 
oder Freiheit und Democracy


 

Über die Freiheit der Kunst. Zugleich eine Beglückwünschung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17.7.1984 – „Anachronistischer Zug“.

Ja, es ist an der Zeit, einer gerichtlichen Entscheidung zu gratulieren. Nein, die Gratulantin ist nicht 197 Jahre alt.

Dereinst jedoch, im Jahre 1819, schrieb ein englischer Poet, Percy Bysshe Shelley (1792-1822), betroffen von der blutigen Niederwerfung eines Arbeiteraufstandes ein Gedicht: „The Masque of Anarchy (Written on the Occasion of the Massacre in Manchester)“. Der Dichter verwendet das Geschehene als Metapher: Ungerechtigkeit und Tyrannei in Gestalt einer bewaffneten Armee treffen auf eine Menschenmenge, die Versammlung der Furchtlosen und Freien („Let a great assembly be, of the fearless, of the free“). Es bahnt sich ein Kampf an: Ungerechtigkeit gegen Freiheit. Doch die Menschenmenge (die Freiheit) greift nicht zur Gewalt. Stattdessen wird sie von der Armee der Ungerechtigkeit niedergemetzelt. Der Dichter ruft sodann die gesamte Menschheit herbei:

Let a vast assembly be,
And with great solemnity
Declare with measured words, that ye (you)
Are, as God has made ye (you), free!

Der großen Versammlung werden die alten Gesetze vorgeführt, die der Dichter als altersschwache Menschen auftreten lässt. Äußerlich zwar in Hochwürden, in Wirklichkeit jedoch grauhaarig und krank. Die Versammelten werden ermutigt, „children of a wiser day“ zu sein, das Alte wie Ketten zu Boden zu schütteln und sich in einer einzigen Stimme zu vereinen, im Ruf zur Freiheit.

128 Jahre später, anno 1947, schreibt Bertold Brecht, der angesichts der Zeit das Schicksal sich wiederholen sieht, das Gedicht „Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy“. In diesem Gedicht ist das Echo des Rufes nach Freiheit überall zu hören, jedoch ist alles anders. Der Dichter lässt einen alten, wurmstichigen Zug am Auge des Betrachters vorbeifahren. Das Auge des Betrachters aber ist blind:

Und der Blinde frug den Tauben
Was vorbeizog in den Stauben

Sodann wird die Szenerie beschrieben, die einer Militärparade ähnelt, deren Teilnehmer jedoch keine Soldaten sind, sondern Zivilisten: „ein Pater, der unter einem Kreuz schreitet, dessen Haken überklebt sind; Herren der Rüstungsindustrie; Lehrer, die für das Recht eintreten, die deutsche Jugend zur Schlächtertugend zu erziehen; Mediziner, die Kommunisten für ihre Versuche fordern; Planer der Vergasungslager; in hohen Ämtern sitzende „entnazte“ Nazis; Pressefreiheit fordernde „Stürmer“-Redakteure; ein alle von der „Hitlerei“ freisprechender Richter; „all die Guten, die geschwind nun es nicht gewesen sind“ (BVerfGE aaO.). Aber alle rufen sie:

Freiheit und Democracy!

Als der Zug, „berstend vor Gestank“, die Hauptstadt der Bewegung erreicht, lässt der Dichter sechs weitere Teilnehmer auftreten, die sich der Parade anschließen. Es sind dies die Unterdrückung, der Aussatz, der Betrug, die Dummheit, Mord und Raub, die allesamt Freiheit und Democracy einfordern. Den Zug beschließt ein Totenwagen, gefolgt von Massen großer Ratten:

Hoch die Freiheit, piepsen sie
Freiheit und Democracy!

Und der Zug der Zeit fährt fort, erreicht den nächsten Ort: 1980. Politische Gegner des Kanzlerkandidaten Franz Joseph Strauß veranstalten ein politisches Straßentheater mit dem Titel „Ein Zug zur Rettung des Vaterlandes oder Freiheit und Democracy“. Tatsächlich bewegt sich ein aus 16 Lkw, vier Luxuslimousinen, Motorradpulk und Fußgängern bestehender Zug in der Zeit vom 15. September bis zum 4. Oktober wie ein Wanderzirkus durch Ortschaften und Städte der Bundesrepublik, wobei in den jeweiligen Ortschaften Szenen gespielt und auch das Gedicht Brechts von seiner Tochter gesprochen werden. Die Inszenierung enthält Anspielungen und Modulationen des Gedichts sowie Darstellungen von Zusammenhängen zur Gegenwart; kurzum: ein wahrhaft anachronistischer Zug.

Doch der pompöse Tross kommt nicht in Fahrt. Zu häufig wird er blockiert und inspiziert. Von einem Pfarrer, der sich an einem Plakatspruch stört; von Ordnungsbeamten, die Flugblätter kontrollieren; von der Polizei, die Beweisfotos schießt; von der Staatsanwaltschaft, die wegen Anfangsverdachts ermittelt; von einem Richter, der verfügt, dass Puppen während der Fahrt wegen des Tragens nationalsozialistischer Embleme zu verhüllen seien; auch bayrischen Ministeriale sind aufgrund eigenartiger Nummernschilder empört und erheben Einspruch. Der SPIEGEL berichtet (im Internet: hier). Schließlich erstattet der Ministerpräsident (und Kanzlerkandidat) Anzeige. Er selbst wird nämlich dargestellt, im letzten Wagen des Zuges, ein Schild hoch haltend, auf dem steht:

Freiheit und Democracy

Gleichzeitig muss er – was Stein des Anstoßes ist – mit den sechs Plagen aus Brechts Gedicht kämpfen, die ebenfalls im letzten Wagen sitzen, „in Gestalt der ’sechs Parteigenossen‘ aus dem ‚braunen Haus'“, wie es im Regiebuch zur Aufführung heißt, „die Unterdrückung in der Maske von Heydrich, der Aussatz in der von Hitler, der Betrug in der von Goebbels, die Dummheit wohl in der von Ley, der Mord in der von Himmler und der Raub in der von Göring.“

Auf einmal geht es schnell voran: Das Amtsgericht verurteilt den Franz-Joseph-Strauß-Darsteller wegen Beleidigung. Die Revision des Künstlers verwirft das Bayerische Oberste Landesgericht als offensichtlich unbegründet. Der Rechtsweg ist erschöpft. Die Sache erledigt. Was nun?

Eine mutige Rechtsanwältin erhebt Verfassungsbeschwerde, und vor 32 Jahren, am 17. Juli 1984, entscheidet hierüber das Bundesverfassungsgericht. Zugunsten von Freiheit und Democracy. Superstar des Beschlusses ist ein von der Verfassung mit absoluter Freiheit ausgestattetes Grundrecht: Die Kunstfreiheit, Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.

Anno 3114: Eine Zeitmaschine rast mit Lichtgeschwindigkeit durch unendliche Galaxien. Es herrscht absolute Freiheit. Auf dem einzigen Verkehrsschild, das man aufzustellen sich aber auch gespart hat, steht

Freie Fahrt

Der Pilot kann ansteuern, was ihn interessiert, er kann anhalten, weiterfliegen, er kann tun, was er will, muss aber nichts. Dem System immanent ist natürlich die Frage, wie zu verfahren ist, wenn eine Kollision etwa mit einem Kometen oder einem Raumschiff droht. In diesem Moment wird die Zeitreise unterbrochen und eine Vorabanfrage beim Zukunftsgericht eingereicht, mit dem Antrag, über die Rechtslage zu entscheiden.

Das Zukunftsgericht nimmt die Sache an, lädt die Beteiligten zum Verhandlungstermin. Alle sind erschienen. Der Gerichtssaal ist gefüllt. Auch die Öffentlichkeit ist vertreten. Eine Schulklasse hat sich eingefunden, deren Kinder das Geschehen genau verfolgen. Die Sitzung wird eröffnet. Der vorsitzende Richter ist ein sympathischer Mensch. Milde lächelnd und mit Souveränität erläutert er die Rechtslage, denn er ist sich seiner Sache absolut sicher.

Fallvariante 1: Der Komet sei eine Sache, also ein nichtmenschliches Flugobjekt. Der Pilot, als menschliches Wesen, könne das höherrangige Recht in Anspruch nehmen. Ausweichen müsse demzufolge der Komet. Das sei angesichts der Unkenntnis des fliegenden Brockens über die Rechtslage jedoch unpraktikabel, was allen Beteiligten einleuchtet. Das Problem sei jedoch zumindest vorliegend ohne jegliche Relevanz, wie sich aus dem Folgenden ergeben werde.

Fallvariante 2: Zwei Raumschiffpiloten könnten gleichrangige Rechte in Anspruch nehmen. Da jedoch der Antragsteller mit Lichtgeschwindigkeit fliege, sei ein Ausweichen unnötig. Dies ergäbe sich aus dem Naturgesetz der Raumzeitkrümmung – ein Gesetz mit Tradition! Die unendlich hohe Energie der Lichtgeschwindigkeit führe im Falle des Aufeinandertreffens zweier positiver Massen zur Krümmung der Raumzeit um den Kollisionspunkt herum. Der mit Lichtgeschwindigkeit sich fortbewegende Pilot würde auf diese Zeitbahn gelenkt und den zukünftigen Zusammenstoß bereits in dem Augenblick umflogen haben, in welchem er ihn erreicht. Das sei in etwa so, wie zwei gleichpolige Magneten, die gnubbelten ja auch immer aneinander vorbei.

Gekicher der Kinder. Als der Richter sich erheben will, wendet jemand aus dem Saal schnell ein, ob es nicht noch wichtig sei, zu klären, was wäre, wenn man nicht mit Lichtgeschwindigkeit flöge? Ein paar Schüler stöhnen gelangweilt. Ein Kind aus den hinteren Reihen ruft:

Hey Junge, chill mal dein Leben!

Die anderen Kinder lachen. Der Richter lächelt. Er erläutert kurz, diese Kollisionsfragen seien zwar interessant, aber nicht das Wichtigste. Die Galaxie sei ja schließlich groß genug. Das Wichtigste sei, das Gegenteil sich zu fragen, was man mit dieser absoluten Freiheit überhaupt anfangen wolle. „Wo wollen Sie denn hin? Was ist das Ziel?“ Die Sitzung wird geschlossen.

Zurück auf der Erde, 2011: Auf die Frage nach den Anfängen seiner Malerei antwortet Gerhard Richter: „You feel very free, when you paint. I wasn’t sure that I’m good, not at all. But I was always sure, I’m allowed to do this. … I started to paint. It was good, it helped me.“

Die „freie schöpferische Gestaltung“ ist wesentlich für die künstlerische Betätigung, betont das Bundesverfassungsgericht seit der Entscheidung „Mephisto“ aus dem Jahre 1971 (vgl. BVerfGE 30, 172). So gesehen sind Künstler Kenner, was die Gestaltung von Freiheit betrifft. Nicht nur, dass die Kunst sich in absoluter Freiheit bewegt, sie gestaltet diese gleichsam, füllt sie aus, erweitert sie.

Es besteht Einigkeit über die Unmöglichkeit, den Kunstbegriff generell zu definieren, weil eine solche Eingrenzung dem Wesen der Kunst widerspricht. Ebenso widerspricht es dem Wesen der Freiheit, sie zu begrenzen. Folgte man dieser Logik, ist die Kunst an sich Freiheit? Oder ist Freiheit gar Kunst? Zumindest eint beide ihre charakteristische innere sowie äußere Unendlichkeit. Die Kunst hat ihre universelle Entfaltungsmöglichkeit der Freiheit zu verdanken. Und die Freiheit verdankt der Kunst ein unerschöpfliches Gestaltungspotenzial. Vielleicht kann man so Josef Beuys verstehen, der in allem Kunst und in allen Künstlern sieht.

„Art when really understood is the province of every human being. It is simply a question of doing things, anything, well. It is not an outside extra thing. When the artist is alive in any person, whatever his kind of work may be, he becomes an inventive, searching, daring, self-expressing creature. He becomes interesting to other people. He disturbs, upsets, enlightens, and he opens ways for a better understanding. Where those who are not artists trying to close the book, he opens it, shows there are still more pages possible. … We are not here to do what has already been done. “ (Robert Henri, The Art Spirit, 1923).

Die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben das bisherige (juristische) Kunstverständnis expandiert, den Blick auf eine weitere unendliche Dimension der Kunst eröffnet, als sie das von W. D. von Noorden entwickelte Merkmal der Mannigfaltigkeit des Aussagegehalts einer künstlerischen Äußerung aufgriffen, die es ermöglicht, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so dass sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt (von Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, Diss. 1969, S. 87).

Künstler haben den Zufall stets zulassen wollen, ihn nicht gesucht, aber erwartet, sowohl während des Schaffensprozesses Handlungen unterlassen, als auch in der Auseinandersetzung mit dem Werk Spielräume toleriert, in der freien schöpferischen Gestaltung werkimmanent wiederum Freiheit geschaffen, damit dort ein Erlebnis stattfinden kann, eine Berührung etwa oder eine Kontroverse. Es kann nicht immer ein Abenteuer sein, manchmal reicht ein Impuls. Man muss das aber sehen wollen. Man muss aufnahmebereit sein. Wer die Augen vor der Kunst verschließt, wird nichts erkennen.

Vor der Ausbreitung von Heuchelei hat Jesus von Nazareth seine Schüler einst mittels einer Bildersprache warnen wollen, die sie zunächst nicht verstanden:

Schaut zu und seht euch vor vor dem Sauerteig der Pharisäer 
und vor dem Sauerteig des Herodes.
Und sie bedachten hin und her, dass sie kein Brot hätten.
Und er merkte das und sprach zu ihnen: 
Was bekümmert ihr euch doch, dass ihr kein Brot habt?
Versteht ihr noch nicht, und begreift ihr noch nicht?
Habt noch ein verhärtetes Herz in euch?
Habt Augen und sehet nicht, und habt Ohren und höret nicht?

Unmittelbar darauf passiert Unvorhergesehenes. Sie begegnen in dem Ort Betsaida einem Blinden, dem auf unkonventioneller Art die Augen geöffnet werden. Jesus nimmt den Blinden an die Hand, führt ihn vor das Dorf, aus seiner gewohnten Umgebung heraus. Danach schmiert er ihm – igitt! – Speichel auf die Augen, legt seine Hände auf ihn und fragt:

Siehst Du etwas?

In der Tat kann der Blinde etwas besser sehen, aber sein Blick ist noch nicht geschärft.

Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.

Die Therapie wird fortgeführt. Jesus legt noch einmal die Hände auf seine Augen.

Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, 
so dass er alles scharf sehen konnte.

Im Jahr 1929 veröffentlichte der Surrealist René Magritte ein Ölbild. Man erkennt eindeutig eine Pfeife. Darunter steht jedoch

Ceci n’est pas une pipe.

Recht hat der Künstler. Denn das was er gemalt hatte, war wirklich keine Pfeife, sondern ein Bild von einer Pfeife.

„Du hast das Universum in einem einzigen Senfklecks; du kriegst aber die Augen nicht auf, wenn du’s wegwischt. Das ist die Pforte zur Freiheit: Der Fehler. Weil er das Missgeschick bedeutet, das Geschick unterbindet, den Ablauf blockiert, die Planung durchkreuzt und Umwege gehen lässt. Und genau da, wo die Kontrolle aufhört, die Planung durchkreuzt wird, der Umweg begangen werden muss, betritt man Neuland“ (Hans-Christian Saylors, 2014).

Herzlichen Glückwunsch,
Freiheit!