Ein „salomonisches Urteil“ zu fällen, ist sprichwörtlich geworden.
Schon zu Lebzeiten Salomos war seine Weisheit weltbekannt:
„Gott gab Salomo Weisheit und Einsicht in hohem Maße und Weite des Herzens – wie Sand am Strand des Meeres“ (1. Kön. 5, 9).
„Von allen Völkern kamen Leute, um die Weisheit Salomos zu hören, Abgesandte von allen Königen der Erde, die von seiner Weisheit vernommen hatten“ (1. Kön. 5, 14).
Wie kam das eigentlich?
Es heißt, Gott habe ihn aufgefordert, eine Bitte zu äußern. Er wünschte sich ein weises und verständiges Herz. König Salomo war zu Beginn seiner Regierungszeit ein junger Mann. Man kann sich vorstellen, dass er nicht wusste, wie er die Sache angehen sollte. Jedenfalls, heißt es weiter, habe Gott diese Bitte so gut gefallen, dass er ihm nicht nur Weisheit sondergleichen allein schenkte, sondern darüber hinaus alles, was er nicht erbeten hatte: Reichtum, Frieden mit allen Feinden, ein langes Leben usw.
Wer hätte das nicht gerne? Einen Wunsch frei!
Die Geschichte kenne ich bereits seit meiner Kindheit und bis dahin gefiel sie mir immer gut. Auch scheint mir der Wunsch nach Weisheit eine gute Idee gewesen zu sein. Jeder hat einen kleinen oder größeren Lebensbereich zu „regieren“, trägt Verantwortung für sich, vielleicht für andere, ein ums andere Mal sieht man sich vor unvorhergesehen Herausforderungen und weiß nicht, wie man es angehen soll. Ein Patentrezept für alles: gibt es nicht.
Wie wäre es mit Weisheit in widrigen Windungen des Lebens?
Mit dem salomonischen Urteil kann man indes seine Schwierigkeiten haben. Der Fall wie auch das Urteil ist in vielerlei Hinsicht – wie man sagt – strange.
Zwei Frauen (Luther übersetzt: Huren) kommen vor den Richterstuhl Salomos und tragen ihren Rechtsstreit vor: Beide Frauen wohnen in einem Haus und haben wenige Tage hintereinander einen Sohn zur Welt gebracht. In einer Nacht stirbt der Sohn der einen Frau. Man sagt, sie habe ihn im Schlaf erdrückt. Kurzerhand tauscht sie ihr totes Kind gegen das lebende aus. Die andere Mutter erkennt die Situation am nächsten Morgen. Beide behaupten vor Gericht, ihnen gehöre das lebende Kind. Salomo befielt, ein Schwert zu holen, das Kind damit in der Mitte zu teilen und jeder Frau eine Hälfte zu geben. Darauf bat eine Frau, das Kind lebendig der anderen zu überlassen. Salomo entschied, diese Frau sei die wahre Mutter. Die Verhandlung wird geschlossen.
Das ist nun das sagenumwobene Urteil?
Eine grausame Willkürentscheidung? Ein König merkt durch Zufall, dass er sich geirrt hat, revidiert sein eigenes Urteil und fällt einfach ein zweites. Was ist daran weise? Und wie kann man nur sein eigenes Kind im Schlaf erdrücken? Und es dann auch noch gegen ein fremdes austauschen? Dass die wahre Mutter ihr lebendes Kind zurück zu erhalten hat, leuchtet doch wohl jedem ein!
Könnte man denken. Auf den ersten Blick scheint es so.
Auf den zweiten Blick sieht die Sache schon anders aus:
Eine von vielen klassischen Verfahrenssituationen. Beide Parteien behaupten im alternativen Ausschlussverhältnis, was gleichzeitig nicht sein kann. Beweismittel gibt es nicht. Woher die Wahrheit wissen? Schließlich war niemand dabei. Eine Entscheidung muss dennoch her. Aber woher?
Als Hintergrundinformation ist es erhellend zu wissen, inwieweit die gesellschaftlichen Umstände zu jener Zeit von den heutigen differierten. Eine staatliche soziale Absicherung gab es nicht. Gleichberechtigung ebenso wenig. Erwerbstätig waren grundsätzlich die Männer. Beide Frauen in der salomonischen Verhandlung lebten allerdings alleinstehend. Von Vätern wird nichts berichtet. Damit hatten sie keine Lebensgrundlage und zählten zum unteren Ende der sozialen Hierarchie. Die einzige Hoffnung für diese beiden Frauen bestand darin, durchzuhalten, bis die Söhne alt genug waren, um für das Familieneinkommen zu sorgen. Sollte Luthers Übersetzung zutreffend sein, galten die beiden Frauen überdies nach damaliger allgemeiner Ansicht als Sünderinnen und unrein. Damit waren sie Ausgestoßene der Gesellschaft. Schlimmer kann es eigentlich nicht kommen.
Für die Frau, dessen Kind starb, kam es aber noch schlimmer. Sie musste nicht nur mit dieser fast untragbaren Tragödie leben. Sie sah sich überdies mit zwei damaligen gesellschaftlichen Ansichten konfrontiert: Erstens, Gott strafe mit Schicksalsschlägen den Sünder und zweitens, eine Frau ohne Kind sei eine Schande. Wenn sich die Situation dieser Frau hätte herum gesprochen, gliche das quasi einem gesellschaftlichem Todesurteil.
Ich gehe davon aus, dass der weise König sich dieser Umstände bewusst war. Sicherlich wusste er sich auch aller formellen Vorschriften entbunden.
Insbesondere schien er aber zu wissen, dass die Wahrheit nicht in ihm zu finden war, sondern in den beiden Menschen, die vor ihm standen.
Er musste also einen Impuls erzeugen, der dem Inneren dieser Menschen entspringt und die Wahrheit ans Licht spült. Er entschied sich, eine Reaktion zu provozieren, die, je nach Intensität der Provokation, mehr oder weniger deutlich ausfallen würde.
Der Plan ging auf. Deutlicher konnte weder die Provokation noch ihre Reaktion sein. Angesichts der bevorstehenden Zweiteilung ihres Kindes wagte es seine Mutter sogar, die zur niedrigsten Gesellschaftsschicht zählte, das Urteil des Königs abzuändern, indem sie um das Leben ihres Kindes bat.
Der König gewährte ihr diese Bitte.
Was geschah eigentlich mit der anderen Frau? Ist sie wegen fahrlässiger Tötung, Hausfriedensbruch, Nötigung, Menschenraub, Falschaussage und Verleumdung verurteilt worden? Wurde sie als unreine und von Gott gestrafte Sünderin aus der Gesellschaft verbannt?
Sie verließ den Gerichtssaal, ohne verurteilt zu werden.